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Sieben Stolpersteine in Kappeln

Wer jemals in Auschwitz oder in einer anderen ehemaligen Todesfabrik Hitler-Deutschlands war, ist sprachlos angesichts der Monstrosität des Grauens, die jedes Vorstellungsvermögen sprengt. Dass aber hinter den endlos langen Zahlenkolonnen individuelle Lebensgeschichten und Schicksale stehen, wird einem erst dann richtig bewusst, wenn – wie heute hier - deutlich wird: es waren Nachbarn, Kollegen, Mitschüler, die zunehmend ausgegrenzt, dann verfolgt und schließlich umgebracht wurden.

Wie die Eichwalds in Kapppeln. Sie waren – und ich benutze dieses Wort bewusst - echte Mitbürger, also Bürger, die mitmachen, sich einbrachten in das Kappelner Stadtleben, bürgerschaftliches Engagement übernahmen. „Ich war ein Kappelner Jung“, sagte – gewissermaßen stellvertretend für die gesamte Familie – einst Johnny Blunt, der als John Eichwald in Kappeln geboren wurde und hier seine Kindheit verbrachte.

Seit drei Generationen war die Familie Eichwald in Kappeln zu Hause. Sie besaß seit 1895 ein Textil- und Schuhwarengeschäft, später kam ein Tabakwarenladen hinzu. Für Richard und Arthur Eichwald war es selbstverständlich, 1914 für Deutschland und den Kaiser in den Krieg zu ziehen. Sie bemühten sich um das Wohl der Stadt und ihrer Bürger, zum Beispiel durch ihren Einsatz bei der Freiwilligen Feuerwehr. Oder durch ihre Mitwirkung in einer Guttemplerloge. Doch die Integration war trügerisch. Am 1. April 1933, schon kurz nach dem Machtantritt Hitlers, wurde ihr Geschäft von SA-Angehörigen boykottiert. Es sollte noch schlimmer kommen: in der Nacht zum 10. November 1938, dem so genannten Novemberpogrom, wurde die Familie Eichwald überfallen und verhaftet. In den Wohnungen kam es zu Plünderungen und Verwüstungen.

Hätten die Eltern keine Vorahnung gehabt, was noch weiter an Grausamkeiten auf jüdische Familien zukommen würde, dann hätten wir hier heute drei weitere Steine zu setzen gehabt. Die Jungs John, Kurt und Erik wurden noch 1938 mit Hilfe des Kindertransports nach England in Sicherheit gebracht. Dort überlebten sie die NS-Zeit. Eltern, Großeltern und weitere Familienmitglieder der Eichwalds wurden deportiert und umgebracht:

  • Senior Alfred Eichwald und seine Frau Emma Eichwald wurden in Minsk ermordet 
  • ihre Söhne Arthur und Richard Eichwald in Neuengamme bzw. Minsk 
  • deren Ehefrauen Emilie Eichwald und Selly Eichwald in Minsk 
  • und die Tochter von Alfred und Emma Eichwald, Jeanette Simenauer, ebenfalls in Minsk.

Damit war die gesamte in Deutschland verbliebene Familie Eichwald aus Kappeln ausgelöscht.

„Ob der alte Gott noch lebte? Manchmal könnte man daran verzweifeln“, schrieb Emma Eichwald 1941 angesichts der Deportationen in den Osten an Kappelner Freunde. In einem späteren Schreiben von Emma Eichwald nach Kappeln heißt es: „Wir wollen Deutschland nicht verlassen, ohne Ihnen noch Lebewohl zu sagen. Wir wurden [von Hamburg aus] evakuiert.[...] Wir werden uns wohl in diesem Leben nicht wiedersehen.“

Selbst im Tod wurden sie gedemütigt, indem ihr Name durch eine Nummer ersetzt wurde. Sie erhielten kein eigenes Grab und keinen Stein, auf dem ihr Name steht. Von heute an erinnern wenigstens kleine Steine an das Schicksal einer Kappelner Familie.

Es ist zugleich das Vermächtnis von John Eichwald, der als britischer Staatsbürger Johnny Blunt 1988 Kappeln besuchte und sich gegen ein Vergessen und Verdrängen dieses dunklen Kapitels deutscher Gesichte wandte: „Vergessen? Nein, das darf nie vergessen werden!“ Insofern sind die kleinen Steine auch Stolpersteine der Lokalgeschichte.

Danke für die Aufmerksamkeit.

Berd Philippsen